Wenn man Anfang des 20. Jahrhunderts an Markttagen durch die Marburger Oberstadt zog, gehörten in Trachten gekleidete Personen noch zum gewöhnlichen Straßenbild. Die heute altertümlich wirkende Bauerntracht war seinerzeit Ausdruck einer von Sitte, Brauchtum und Glaube geprägten dörflichen Lebensordnung. Auch wenn die Marburger Tracht als besonders modern galt und sich dem städtischen Zeitgeschmack anpasste, unterlag auch hier das Tragen der Traditionskleidung strengen Regeln.
So groß das Verbreitungsgebiet der Trachten war, so facettenreich waren sie in ihren Variationen. Zusätzlich wurde zwischen protestantischer und katholischer Tracht unterschieden. Anders als die farbenfreudige und ornamentale Schwälmer Tracht mit ihren weit aufbauschenden Röcken zeichneten sich die Marburger Trachten durch wenige, dennoch kräftige Farben und die charakteristischen Hauben, die sogenannten »Stülpchen« mit floralen Stickereien aus. Ein ausgefeilter Farbkodex gab vor, was von wem zu welchem Anlass getragen wurde. Kleidung wurde so zu einem von allen verstandenen und genutzten Sprachrohr und sagte z. B. etwas über Alter, Konfession oder Familienstand der Trägerin oder des Trägers aus. (KG)
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