Es war eine unangenehme Situation, wie ein
Tribunal. Die studentischen Ankläger hatten den Zugriff auf das
Mikrophon. Damit konnten sie entscheiden, ob der 58-Jährige, der in
einem Glaskasten inmitten seiner Gegner saß, zu Wort kam oder nicht.
Geschehen ist das am 14. Mai 1968 im Hörsaalgebäude der
Philipps-Universität, und der „Angeklagte“ war Georg Gassmann,
der Oberbürgermeister von Marburg.
Am Tag zuvor hatten 300 Studierende den
Autoverkehr auf dem Marburger Marktplatz dadurch behindert, dass sie
sich auf die Straße legten. Sie forderten eine Aussprache mit dem
Oberbürgermeister über die Notstandsgesetze. Die wurden gerade im
Bundestag beraten, dessen Mitglied Gassmann war. Er sagte zu, am
nächsten Tag zu einer Veranstaltung im Hörsaalgebäude zu kommen.
Allerdings war dort die Mikrofonanlage übersteuert, mehrfach fiel
die Beleuchtung aus. Gassmann nahm deshalb den Vorschlag der
Studierenden an, die Diskussion ins Foyer zu verlagern. Er setzte
sich freiwillig in die verglaste Pförtnerloge und lieferte sich
seinen Gegnern damit aus. Die studierende Jugend von 1968 hatte
begriffen: Nicht was gesagt wird, ist entscheidend, sondern wer und
was gehört wird.
Die technischen Voraussetzungen dafür haben ihren
Ursprung im Jahr 1670: Die „Sprechtrompete“ wurde erfunden. Das
Instrument musste mehrfach verbessert werden, bis man ein echtes
„Sprachrohr“ hatte. Seine Rolle in den politischen
Auseinandersetzungen von 1968 verdankt das Sprachrohr seiner
technischen Verbesserung in den 1950-er Jahren. Der Schalltrichter
wurde mit dem elektrisch verstärkten Mikrophon gekoppelt und so
wurde aus der Sprechtrompete das „Megaphon“.
Zur Vorgeschichte der Auseinandersetzung mit Gassmann gehört auch, dass am 11. April 1968 in Berlin nach langer Hetze der Springerpresse ein Attentat auf Rudi Dutschke verübt wurde. Er war der führende Kopf der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Auch in Marburg riefen Vertreter der Studentenschaft zu Aktionen gegen die „Schreibtischtäter“ im Springerkonzern auf. Es gab Unruhen in Frankfurt und München statt. Bei einem Polizeieinsatz starben der Pressefotograf Klaus Frings und der Student Rüdiger Schreck. Die Todesfälle wurden den Demonstrierenden angelastet. Also stellten sich Marburger Studierende, die bei den Demonstrationen dabei gewesen waren, vom 18. bis zum 20. April 1968 auf den Obermarkt und erzählten über Megaphon, was sie in München und Frankfurt erlebt und gesehen hatten. Diese aufgeheizte Stimmung sollte man im Hinterkopf haben. Sie erklärt vielleicht das unsägliche Tribunal, vor das die Studierenden Georg Gassmann stellten.
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