Wer sich die Wetterfahne auf dem Marburger Rathaus ansieht, stellt fest, dass die Lanze des Reiters nicht in die Richtung zeigt, in die der Wind weht, sondern in die, aus der der Wind kommt. Das war nicht immer so. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts schmückte eine andere Wetterfahne das Rathaus.
Als im Jahr 1663 der Glockenturm auf dem Marburger
Rathaus wieder aufgebaut wurde, nutzten Hans Georg Sauer und Hans
Philipp Alt die Gelegenheit, sich hoch über der Stadt ein Denkmal zu
setzen. Sauer war damals Oberbaumeister, Alt Unterbaumeister. Schon
die Stange der Fahne mit Ranken, Stern und einer „Bekrönungsblume“
ist auffällig. Im Textfeld erkennt man das „Gemerke“ der Stadt
Marburg, das verschnörkelte M – heute würde man es ein Logo
nennen. Darunter sieht man die Initialen von Ober- und
Unterbaumeister: HGS und HPA.
Am auffälligsten ist der Reiter. Sein Hut oder
Helm hat eine aufwärts gebogene Krempe. Es könnte sich um eine
etwas groß geratene Sturmhaube handeln, wie sie die einfachen
Soldaten trugen. Und er scheint einen runden Schild zu tragen, eine
„Tartsche“. Die gehörte im 17. Jahrhundert ebenfalls zur
Ausrüstung einfacher Soldaten. Wenn man ihn mit Abbildungen aus dem
Dreißigjährigen Krieg vergleicht, kann der Reiter eigentlich nur
ein leicht bewaffneter „berittener Pikenier“ sein. Sie wurden
auch „Dragoner“ genannt. Die Dragoner durchkämmten im
Dreißigjährigen Krieg das Land. Sie raubten Lebensmittel und Vieh,
verwüsteten die Felder, vergewaltigten und töteten.
Hans Georg Sauer und Hans Philipp Alt gehörten
1663 einer Generation an, die die Welt länger im Krieg als im
Frieden gesehen hatte. Beide hatten die bitteren Jahre des
„Hessenkrieges“ erlebt, als der Dreißigjährige Krieg mit all
seinem Blutvergießen und seiner Zerstörung auch nach Marburg kam.
1624 musste Hessen-Kassel den Landgrafen von Hessen-Darmstadt
Oberhessen und Marburg überlassen. 1645 war Hessen-Kassel wieder im
militärischen Vorteil, belagerte Marburg und eroberte die Stadt
zurück. 1647 kamen die Darmstädter zurück und eroberten Marburg
erneut. Dabei flogen Kanonenkugeln von der Festung in die Stadt.
Eine traf das Hauptquartier der Belagerer im
Stadthof am Grün. Der verwundete Befehlshaber gab die Stadt seinen
Soldaten zur Plünderung frei. Am Ende des Krieges war auch Marburg
ziemlich am Ende. Sollten zwei Männer mit diesen bitteren
Erfahrungen wirklich einen Dragoner als Zeichen auf die Wetterfahne
des Rathauses gesetzt haben? Oder war es Spott über den bewaffneten
Räuber, der sein Fähnlein nach dem Wind dreht? Und eine Erinnerung
an die schwere Zeit, als der große Krieg über die Marburger hinweg
ritt?
copyright: © Bildarchiv Foto Marburg