Auf dem alten Holzschnitt von Sebastian Münzer aus dem Jahr 1588 kann man ihn sehen: den Weg, der Marburg mit der Welt verbindet. Vom Handelsweg auf den Lahnbergen gelangen Reisende durch das Weidenhäuser Tor über die „lange Brücke“ in die Stadt. Sie durchqueren dabei den ältesten „Vorort“: Weidenhausen. Die Siedlung hat seit jeher einen besonderen Charakter. Sie bestand ursprünglich aus mehreren Inseln in einem anfangs natürlichen Gewässernetz. Im Mittelalter nutzen die Einwohner diese von der Lahn gespeisten Gräben für den Betrieb ihrer Mühlen und jener Gewerbe, die fließendes Wasser brauchen. Daher siedelten sich hier vor allem Gerber und Wollweber an. Aber auch „unehrliche“ Berufe wie der Henker fanden hier Obdach. Denn im Gegensatz zur Oberstadt ist Weidenhausen stets ein Ort des Handwerks und der Industrie.
In
der Weidenhäuser Straße 37 liegt im Jahr 1907 das Gasthaus
„Hannes“. Dort trifft sich der Stammtisch „Käsebrod“. Bis in
die 1930er Jahre vereint er die unterschiedlichsten Menschen aus
Universität, Handwerk und Kunst an einem Tisch. Marburger Jäger
sollen dort verkehren ebenso wie die Willingshäuser Malerkolonie.
Der Künstler Carl Bantzer schenkt dem „Käsebrod“ gar ein
Portrait von sich. An dem Stammtisch wird getrunken, diskutiert,
gesungen, und auch Unfug getrieben. Der Stammtisch schafft eigene
Traditionen wie ein Siegel oder den „Orden der großen Käsestange
in Senf“. Was genau am Stammtisch besprochen wurde, bleibt bis
heute geheim. Das „Käsebrod“ erfreut sich überregional großer
Beliebtheit. Für eine Mitgliedschaft wird die einstimmige Zustimmung
des Stammtisches notwendig. Während des Ersten Weltkrieges wird mehr
über das tagespolitische Geschehen gesprochen. Am Stammtisch wird
auch Trost für im Krieg Verstorbene gespendet.
Die
Willingshäuser Malerkolonie entsteht Anfang des 19. Jahrhunderts in
der nahegelegenen Schwalm. Hier erholt sich der Offizier Gerhardt
Wilhelm von Reutern 1814 bei Verwandten in Willingshausen. Er beginnt
zu Malen und kehrt immer wieder zurück. Mit dem Professor der
Kasseler Kunstakademie Ludwig Emil Grimm begründet er hier die
Freiluftmalerei. Den malerischen Reiz bilden die bunten Trachten und
die schöne Landschaft. Willingshausen wird zu einem internationalen
Studienort, der bis ins 20. Jahrhundert hinein viele bekannte
Kunstschaffende anzieht. Bei Ausflügen kehren die Maler*innen auch
im Gasthaus Hannes ein. So auch Carl Bantzer, dessen farbenfroher
„Schwälmer Tanz“ heute im Kunstmuseum der Universität zu sehen
ist.
Vielen ist unbekannt, dass es in Weidenhausen einen Tiergarten gab. Er wird um 1930 von Landwirt Franz Löchel gegründet und beherbergt das Ausflugslokal „Hecht“ mit seiner Sommerterrasse. Dort gibt es Deftiges, Süßes und Kaffee. Vom Universitätsstadion bis zum Ende der Weidenhäuser Straße liegen die Gärten und Gehege des Zoos. Wo heute die Stadtautobahn verläuft, leben damals Bären, Lamas, Affen, Greifvögel und mehr. Besonders beliebt sind die Löwen, die im Zoo sogar Nachwuchs bekommen. Ihr Tierpfleger führt regelmäßig Kunststücke mit ihnen vor. Eines Tages wird er von den Löwen während der Dressur tödlich verletzt. Ende der 1930er Jahre wird der Tiergarten geschlossen. An seiner Stelle entsteht eine Schweinemast.
Ein Goldfasan ziert die Portions- und Kuchenteller des Gasthofs „Hecht“. Die farbenfrohen Vögel sollen in einer großen Voliere inmitten des Marburger Tiergartens zu bestaunen gewesen sein. Ein Abstecher in das Ausflugslokal gehört in den 1930er Jahren zum Zoo- Besuch. Dort freut sich die ganze Familie auffrische Waffeln.
Leihgeberin: Hannelore Blanke